150 Kriminalfälle aus 140 Jahren verzeichnet das Reichenauer Malefizbuch – Nachbarschaftsstreitigkeiten und Beleidigungen, Körperverletzungen, Diebstähle und Brandstiftungen, Tötungen und Sexualstraftaten. „Es finden sich alle Arten von Delikten, fast alles, was Menschen tun können und was ihnen zustoßen kann“, sagt Rainer Brüning, Referatsleiter im Generallandesarchiv (GLA) in Karlsruhe und Kurator der Ausstellung „Spurensuche … eine Kriminalitätsgeschichte der Reichenau“. Die Korrespondenzausstellung zu der in Konstanz präsentierten Großen Landesausstellung über die Geschichte der Klosterinsel Reichenau stellt im GLA das Malefizbuch ins Zentrum. Die Einträge auf den 46 Blättern berichten von Übeltaten, Unglücksfällen und zeitspezifischen Delikten wie Falschmünzerei, Wilderei, Fisch- und Waldfrevel sowie Fluchen, Götteslästerung und Hexerei. Entstanden ist das Reichenauer Malefizbuch 1590 – als der Bischof von Konstanz die Klosterleitung übernahm – vermutlich, um Belege für die Hohe und Niedere Gerichtsbarkeit des Klosters zusammenzustellen und so die Bedeutung des vormals eigenständigen Reichsklosters zu dokumentieren. Der Schreiber griff auf Unterlagen des Klosterarchivs zurück, das später, im Zuge der Säkularisation von 1803, nach Karlsruhe kam und sich heute im GLA befindet.
Die Spurensuche der Ausstellung ist geleitet von der Frage, was die Zeugnisse des Malefizbuchs über die Lebensumstände der einfachen Menschen des Spätmittelalters im Herrschaftsgebiet der Benediktinerabtei aussagen. „Der Alltag der Bauern und Handwerker ist nicht dokumentiert, aber die Quellen zur Kriminalität geben Auskunft, weil der Konflikt zu einem Verwaltungsakt führte“, sagt Brüning. Wichtige Zeugnisse sind die Urfehden: Dokumente, in denen die Beschuldigten ihre Schuld bekennen, das Urteil des Gerichts anerkennen und schwören, sich nicht an den Richtern zu rächen.
„Es gab kein einheitliches Recht und keine Gleichheit vor dem Gesetz“, sagt der Wissenschaftler. „Die Beweisführung würden wir heute nicht anerkennen, zumal Geständnisse mit Folter produziert sein konnten, es gilt deshalb vorsichtig mit den Quellen umzugehen“, betont der promovierte Historiker.
Die Art der Bestrafung hing von der Person und ihrem Stand ab und davon, ob sie Unterstützung durch Fürsprecher hatte. So bedeutete es einen Unterschied, ob ein Adeliger oder ein Landstreicher etwas stahl. Amtsträger und Adelige blieben von Folter verschont. Obwohl die Ausstellung in Text, Zeichnung und einer Eisernen Kette von der Hinrichtungsstätte zu Allensbach auf drakonische Strafen weist, versteht sie sich keinesfalls als Gruselkabinett. Vielmehr ermöglicht sie einen kulturgeschichtlichen Blick auf die Jahre zwischen 1450 und 1590. Die Obrigkeit verbot es, lutherische Bücher zu lesen, sie untersagte Christen Handelsgeschäfte mit Juden, sie ließ Finger abhacken und verwies Menschen des Landes.
Am Ende der Spurensuche stehen Überlegungen des Juristen, Schriftstellers und Philosophen Michel de Montaigne, der 1580 an der Reichenau vorüber Richtung Italien reiste. Er kann als Beispiel eines Menschen gelten, der mitfühlend die Auffassungen seiner Zeit über die Folter in Frage stellte, der sich um das Leben von Frauen sorgte, die als Hexen verunglimpft wurden, als einer, der eine Pflicht der Menschlichkeit erkannte und auch die Gefahr vorschnell gefasster Meinungen.
bis Fr 09. August 2024
Generallandesarchiv Karlsruhe
Nördliche Hildapromenade 3
Di–Do 08:30–17:30 Uhr
Fr 08:30–17:30 Uhr
(Feiertags geschlossen)
Führung mit Kurator Rainer Brüning
Do 13. Juni 2024, 17:00 Uhr