Experimentierfreude und Sinnengenuss
Galt es 2012 noch als Wagnis, ein großangelegtes Festival wie die Europäischen Kulturtage ganz alleine der zeitgenössischen Musik zu widmen, so glückte dies mit überwältigendem Erfolg vor allem durch die Popularität und Ausstrahlung des Karlsruher Komponisten Wolfgang Rihm, der damals zum 60. Geburtstag geehrt wurde. Heute, acht Jahre später steht Rihm erneut im Mittelpunkt eines Neue-Musik-Festivals in seiner Heimatstadt Karlsruhe.
Die achte Ausgabe des Festivals Zeitgenuss steht freilich unter den durch Corona einschränkenden Vorgaben: "Anfangs hatte ich nur so vor Ideen gesprudelt", bekannte der Komponist, "doch bald wurde klar, dass wir uns fragen müssen, was kann jetzt überhaupt sein." Keine großen Orchesterwerke, keine opulente Oper, keine vollen Zuschauerräume, keinen Festivalpass und keine Abendkasse. Stattdessen einen Mehraufwand für die Veranstalter, "der gar nicht zu beschreiben sei", wie Hartmut Höll beklagt. Der Pianist und Rektor der Karlsruher Musikhochschule ist neben der Stadt Veranstalter des Festivals Zeitgenuss, das in der Folge des Rihm-Festivals 2012 "Musik baut Europa" gegründet wurde. "Und dennoch schaffen wir mit Werken von 1968 bis 2019 einen großen Bogen durch das Komponistenschaffen", so die Kulturamtsleiterin der Stadt Karlsruhe, Dr. Susanne Asche, die den Koveranstalter vertritt und sich persönlich in den vergangenen Jahren mit Verve für die Etablierung dieses Festivals stark gemacht hatte.
Den Namen "Zeitgenuss" indes hatte Wolfgang Rihm eingebracht, der damit ebenso die Musik als Zeitkunst und die Position der Zeitgenossenschaft, nicht zuletzt aber auch den Genuss verbunden wissen will.
Rihms Musik zu genießen ist gar nicht so schwer, denn sie klingt auch für Nichtspezialisten eigentümlich vertraut und dennoch erfrischend neu. Der vermutlich bekannteste lebende deutsche Komponist ist alles andere als ein spröder Avantgardist, eher einer, dessen Werk bei aller Experimentierfreude stets Sinnengenuss verspricht. Rihm ist neben der Musik auch in der Literatur, Philosophie und den anderen Künsten bestens verankert, von wo aus der er stets zu neuen Ufern zu streben scheint.
Auch wenn Rihm sich selbst etwas kokett als "grunddefizitäres Wesen mit einem gewissen Talent" bezeichnet, gleicht seine Schaffenskraft einem selbst von schwerer Krankheit nicht bezwingbaren Strom. Rihm hat bis heute über 500 Werke geschrieben, darunter Opern, Bühnenwerke, Vokalwerke, Orchesterstück, Kammermusik und Werke für Soloinstrumente. Letzteren kommen in Coronazeiten besondere Bedeutung zu, ebenso wie der Musik für kleinere Ensembles. So bringt das Eröffnungskonzert am Donnerstag, 22. Oktober, in der Christuskirche neben Streichquartetten und einem Bläserquintett mit "Toccata, Fuge und Postludium" für Orgel, das 1972 geschrieben und 40 Jahre später überarbeitet wurde, eines der frühesten Rihm-Werke des Festivals: "In den frühen Jahren habe ich viel für Orgel geschrieben, denn als 15-, 16-Jähriger erhält man ja nicht allzu viele Gelegenheit, ein Orchester für sich spielen zu lassen. Mit der Orgel hatte ich aber die Möglichkeit, meiner Musik orchestrale Gestalt zu geben", so Rihm. So hatte Rihm schon als Jugendlicher viele Kirchenorgeln ausprobiert, und stundenlang frei fantasiert, improvisiert und komponiert.
Im vergangenen Jahr hat der Düsseldorfer Organist Martin Schmeding dieses frühe Werk aus der Arichivschublade gezogen und in einer Gesamteinspielung auf mehreren CDs zugänglich gemacht.
Am Samstag, 24. Oktober, kommt er in die Evangelische Stadtkirche, um an dem Konzert unter dem Motto "Überirdische Klangwelten" mitzuwirken. Hier spielen auch die Geigerin Tianwa Wang und der Cellist Lucas Fels Solowerke aus Rihms Zyklus "Über die Linie", der dem Festival den Untertitel gibt. Diese beiden stehen neben dem Bariton Georg Nigl, der am Festivalsamstag in der Lutherkirche einen Liedernachmittag beisteuert, für die mit Rihm besonders verbundenen Interpreten, die gemeinsam mit Karlsruher Musikern und Ensembles das Festival zum Klingen bringen.
Mit Rihm verbunden sind mittlerweile auch mehrere Generationen nachfolgender Komponistinnen und Komponisten, die den künstlerische Freiheit und Individualität fördernden Rihm als Lehrer genossen. Zahlreiche längst selbst renommierte Kolleginnen und Kollegen wie Rebecca Saunders, Márton Illés oder Kathrin A. Denner oder der neben Rihm an der Karlsruher Hochschule Komposition lehrende Markus Hechtle sind aus dieser Schule hervorgegangen und tauchen mit eigenen Werken im Zeitgenuss-Programm auf, in das am Sonntag, 25., auch das zweite Sinfoniekonzert der Badischen Staatskapelle (11 und 15 Uhr) integriert ist, in der der neue GMD Georg Fritzsch Rihms "Gejagte Form" aus dem Jahr 1995 mit Beethoven und Mahler konfrontiert.
Jüngste Komponisten hingegen vereint am 23. Oktober ein Abend mit Uraufführungen aus den Kompositionsklassen von Hechtle und Rihm. Auch dieser findet wie die meisten Zeitgenuss-Konzerte in einer Kirche, in diesem Fall der Evangelischen Stadtkirche am Marktplatz, statt, die in diesen Zeiten schon alleine aufgrund der höheren Besucherkapazität erste Wahl sind.
> 22. bis 25. Oktober 2020, verschiedene Orte