Klappeauf - Karlsruhe
Archiv: 11.2009
Verschiedenes Herbies Cartoon

 

Ein Jahrzehnt wird besichtigt

Bild - Ein Jahrzehnt wird besichtigt
Kinder, wie die Zeit vergeht. Gerade waren wir noch beschäftigt die Computer fit zu machen für das neue Jahrtausend und unsere wichtigsten Daten vor dem vermeintlichen Milleniumscrash zu schützen, schon ist ein Hundertstel dieses Jahrtausends vergangen. Zehn Jahre älter sitzen wir nun da, in der Regel vor neuen Computern mit neuen Daten. Nur mit dem Updaten und Upgraden in eigener Sache hat es nicht geklappt, auch die Antiaging-Cremes waren für den Arsch wie so vieles in diesem Jahrzehnt, das man nicht einmal richtig benennen kann.

Beim Stichwort Jahrhundertwende fallen einem alten Sack wie mir nun mal partout die Jahre zwischen 1900 und dem Ersten Weltkrieg ein. Nicht dass ich persönlich dabei gewesen wäre, aber als zeitlicher Bezugspunkt ist mir diese Jahrhundertwende immer noch präsent. Schließlich gab es in meiner Jugend noch leibhaftige Großeltern, die um diese Zeit geboren wurden, schließlich bog der Geschichtsunterricht, den man in den 70er und 80er-Jahren genossen hat, beim Thema „Erster Weltkrieg“ in die Schlussgerade ein, um geradewegs auf das bei den Geschichtslehrern (und aus anderen Gründen bei manchen Großeltern) so beliebte „Dritte Reich“ zuzusteuern. Aber bevor es mich weiter aus der Kurve trägt, komme ich zum Thema, nämlich zu diesem Jahrzehnt und zu einem Buch namens „Unsere Nullerjahre“ (erschienen im Eichborn-Verlag), in dem eine junge Autorin namens Judith-Maria Gillies die technischen Spielzeuge, Modetorheiten, Zeitgeisterscheinungen der Jahre zwischen 2000 und 2009 auflistet und eher launisch als gewitzt kommentiert. Einiges davon habe ich mir in meiner Praxis als promovierter Polemiker selbst schon zur Brust genommen, das meiste davon habe ich einfach nur registriert wie jeder andere auch, der einigermaßen wachen Sinnes und multimedial vernetzt in dieser Zeit in dieser Welt lebt.

In ihrer Gesamtheit hat mich die alphabetische Auflistung von Alcopops bis Zungenreiniger dann aber ziemlich beeindruckt, zeigt sie doch, dass es schier unmöglich ist dem Zeitgeist nicht auf den Leim zu gehen, dass auch der überzeugte Individualist ständig Gefahr läuft dem Uniformitätszwang einer Epoche zu erliegen, dem viele andere sich geradezu lustvoll ergeben. Wenn die noch relativ junge Autorin „wir“ schreibt, dann meint sie wohl jene Sorte Mensch, die das Leben lebt als wäre es eine US-Fernsehserie, „Sex and the City“ zum Beispiel.

Es mag sie geben, die trendigen Zeitgenossen, die während sie sich auf die Schnelle einem Coffee to go genehmigen und dazu einen Bagel mampfen, auf ihrem Blackberry ihre Termine organisieren (oder organizen) und gleichzeitig mit dem Handy-Headset wahnsinnig wichtige Gespräche führen, am besten während sie mit ihrem Geländewagen (auch Offroader oder SUV genannt) durch den Großstadtverkehr brettern, ja, ja, so was mag es schon geben, aber in der Regel nimmt man die gängigen Verstiegenheiten und technischen Innovationen in kleineren Dosen zu sich, allein schon, weil man sich nicht alles leisten kann – das gilt in einem etwas anderen Sinne auch für bauchfreie Oberteile und Hüfthosen.

Obwohl ein Blick auf die Mitmenschen vor allem zur Sommerzeit verrät, dass Außenansicht und Innenperspektive nicht bei allen zur Deckung kommen. Das ist ein Grundproblem menschlichen Seins, das in jeder Epoche eine etwas andere Gestalt annimmt. Bei genauerem Hinsehen ergibt der Flickenteppich aus sehr heterogenen Stichworten wie Allergiker-Hinweise, Anti-Aging, Aromatherapie, Ayurveda, Bewegungsmelder, Body-Mass-Index, Botox. Intimrasur, Nordic Walking, Personal Trainer, Podcasting, Rauchverbot, Zahnbleaching usw. das Bild eines narzissistischen, selbstsüchtigen Egos, das sich mit elektronischen Prothesen umgibt und befangen ist in einem Gesundheits-, Fitness- und Sicherheitswahn, der auch noch von den Massenmedien und der großen Politik befördert wird.

Der Anschlag auf das World Trade Center mit dem daraufhin ausgerufenen „Krieg gegen den Terror“ und die akute Schweinegrippe bzw. die flächendeckende Schutzimpfung dazu könnten auch als Eckpunkte eines Jahrzehnts der Angst und der allgemeinen Verunsicherung gelten, in dem die persönliche Freiheit so rapide an Wert verloren hat, dass sie zu einem Spottpreis zu haben sein müsste, wenn sie denn noch jemand haben wollte. Den Fortschritt der Menschheit habe nicht nur ich mir mal ganz anders vorgestellt. Aber einen Trost und wenigstens einen Grund die vergangenen Jahre mit einem leichten Lächeln Revue passieren zu lassen gibt es ganz sicher: Das kommende Jahrzehnt wird noch viel schlimmer. Machen Sie das Beste draus.