Das gleich mal vorweg: Ich habe die Grünen nie gewählt und ich werde sie auch nie wählen, und doch muss ich sagen, dass mich die kleine pfiffige Diskussion um ihre Gallionsfiguren Daniel Cohn-Bendit und Jürgen Trittin und ihre „pädophile“ Vergangenheit maßlos geärgert hat, wegen der Scheinheiligkeit und der Verlogenheit, die dabei vor allem auf konservativer, christdemokratischer Seite zum Vorschein kam. Dass die Grünen in ihren Anfängen beim Versuch alles neu und besser zu machen als die Parteien, die bis 1980 die Macht im Bund und Ländern unter sich aufteilten, übers Ziel hinausgeschossen sind, vor allem in Sachen Sexualmoral, ist dokumentiert. Die Aufnahmen vom Gründungsparteitag der Grünen in der Karlsruher Stadthalle im Januar 1980 haben es sogar ins Kino geschafft. Groß dürfte das Publikum nicht gewesen sein, dass sich den Film „Der Kandidat“ zu Gemüte führte, aber in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde das Gemeinschaftswerk von Alexander Kluge, Volker Schlöndorff, Stefan Aust und Alexander von Eschwege schon, immerhin machte der Film ganz unverhohlen Stimmung gegen den Kanzlerkandidaten Franz Joseph Strauß, der für Millionen linker Wähler das absolute Feindbild verkörperte. Eingangs sind verhuschte Aufnahmen von jungen Leuten zu sehen, die auf dem Boden der Stadthalle herum lümmeln, auf einem Pappschild haben sie handschriftlich ihre Forderung gemalt: “Weg mit den Paragraphen 173 bis 176“. Später sieht man sie noch einmal, diesmal etwas besser sortiert, wie sie ihre Forderung kundtun, die ihrer Meinung nach in die Satzung der neuen Partei gehört: „Legalisierung aller zärtlichen sexuellen Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern, die gewaltfrei sind und auf freier Vereinbarung beruhen“. Ein gewisses Raunen im Saal ist hörbar, mit Gelächter wird die Forderung nach Abschaffung der Schulpflicht quittiert. Später erzählt einer von ihnen mit nölender Stimme, wie er einen elfjährigen Jungen, der seiner WG zugelaufen ist, „unheimlich lieb“ gewonnen habe. Die Reaktion auf die naheliegende Frage eines Anzugträgers, wie weit die Beziehung denn gegangen sei, ist ausgesprochen rabiat. Mit der Friedfertigkeit des Häufleins von Männlein und Weiblein in selbstgestrickten Pullovern ist es offenbar nicht weit her. Die Szenen befremdeten mich beim ersten Sehen und verfolgten mich lange. Immer wieder fragte ich mich auch, warum diese offenkundige Verirrung, diese offene Flanke der Partei nicht von den anderen etablierten Parteien an- und aufgegriffen wurde. Aber nichts passierte, bis in unsere Tage. Warum? Eine damals vom Zaun gebrochene Diskussion hätte die Grünen vielleicht innehalten und auf Distanz gehen lassen zu einem Klientel, das im Kampf gegen Mief und Muff der übergangenen Sexualmoral, die so etwas wie den Kuppelei-Paragraphen hervorgebracht, die die Homosexualität kriminalisierte, das Kind mit dem Bade ausgeschüttet hat. Das Kind, noch kurze Zeit davor Objekt einer schwarzen Pädagogik, die glaubte, den jungen unreifen Menschen mit strikten Verboten und Geboten und notfalls auch mit Schlägen, nach ihrem Vorbild formen zu können, wurde auf einmal als gleichwertig und gleichrangig behandelt. Die Entdeckung der Sexualität des Kindes führte zu dem interessegeleiteten Trugschluss, es könne mit Kindern allen Ernstes so etwas wie Sex im beiderseitigen Einvernehmen geben. Glücklicherweise hat die Lebenswirklichkeit ein gewisses Beharrungsvermögen gegenüber Revolutionären, die glauben sie so einfach nach ihrem Gusto umkrempeln zu können. So dürfte es einen großen Unterschied zwischen Theorie und sexueller Praxis gegeben haben. Im politischen Alltagsgeschäft kamen die 1980 in Karlsruhe und auch noch später anderswo erhobenen Thesen nicht zum Zuge , sie zugelassen und zum Teil in ihre Programme aufgenommen zu haben, ist aber zweifellos ein Sündenfall der Grünen, die damals offenbar alles und jeden mit offenen Armen empfingen, der irgendwie gegen die herrschende Ordnung war: Kommunisten, Maoisten, abtrünnige CDUler wie Herbert Gruhl, einen ehemaligen SS-Mann wie den Öko-Bauern Baldur Springmann, der noch knöcheltief in der braunen Blut- und Bodenideologie steckte. Damals in den 80er-Jahren hätte ich von einem Winfried Kretschmann noch gerne erfahren, wie sich seine Mitgliedschaft im Kommunistischen Bund Westdeutschlands (KBW), der mit Menschenschlächtern wie Pol Pot und Idi Amin sympathisierte, eigentlich mit seinem neuen ökolibertären Selbstverständnis verträgt. Heute dreißig Jahre später ist mir das völlig schnuppe. Winfried Kretschmann hat sich zu einem ernstzunehmenden Politiker gemausert, der sogar die Landesvater-Rolle mit Würde und Geschick zu tragen versteht. Auch Jürgen Trittin und Daniel Cohn-Bendit, der schon vor Jahren seine vermeintlich lustvollen Erfahrungen im Kinderladen als Hirnwichsereien im Zuge der sexuellen Revolution enttarnt hat, haben sich jeder auf seine Weise zu Akteuren auf der politischen Bühne entwickelt, denen man zumindest zuhören kann, die ahnen lassen, dass sie eine bewegte Biografie und einen damit einhergehenden Erkenntnisprozess hinter sich haben. Dummheiten und Irrtümer sollte man dann kenntlich machen und angreifen, wenn sie virulent sind, wenn sie noch etwas mit der aktuellen Realität zu tun haben. Wer Jahrzehnte später „Skandal“ schreit, erregt Verdacht, dass es ihm nicht um die Sache, sondern um die billigste Form der Diffamierung geht. Der Brustton der Empörung, der beim Thema Pädophilie und Päderastie ja auch so leicht fällt, kann kaum das innere Wohlbehagen darüber verbergen, dem politischen Gegner endlich ungestraft ans Bein pinkeln zu dürfen und das auch noch mit guten Gewissen.