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Archiv: 04.2010
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Die schlechte neue Zeit

Bild - Die schlechte neue Zeit
Aufgepasst – gleich zum Auftakt kommt ein Zitat, das eine gewisse geistige Anstrengung erfordert: „Denn eben das ist das Befremdliche an diesem rückwärts gewendeten Optimismus, dass er sich zwar zu allen Zeiten wiederholt, ohne sich doch jemals irgend genügend auf bestimmte gleichzeitige Zeugnisse aus der Vergangenheit berufen zu können, welcher er seine befangene und ausschließliche Vorliebe zugewendet hat.“.

Das ist zugebenermaßen umständlich formuliert, aber der Sachverhalt ist klar: Die gute alte Zeit hat es nie gegeben, sie ist reine Fiktion.

Der veraltete gewundene Sprachgebrauch meines Vorredners verrät, dass seine Erkenntnis nicht ganz neu ist. Tatsächlich ist der Literaturhistoriker Victor Aimé Huber schon 1861 dem Phänomen der Vergangenheitsverklärung auf den Grund gegangen. Gebracht hat es wenig, denn dieses Zitat findet sich in Gesellschaft von Aussagen bis in die Nachkriegszeit, in denen immer wieder die gute alte Zeit gegen die angeblich schlechte Gegenwart ins Feld geführt wird. Zusammengetragen hat diese Wehklagen der Schriftsteller und ehemalige Titanic-Redakteur Gerhard Henschel in dem sehr empfehlenswerten, bei Eichborn erschienenen Buch „Menetekel“. Henschel rollt die Sache von hinten auf. Jedem Gejammer über den Verfall von Sitte, Moral und Religion, über zügellose Sexualität, hemmungslose Genusssucht, mangelnden Anstand und zerbröselndes Gemeinschaftsgefühl folgt ein eben solches Gejammer aus einer früheren Zeit, in der die Welt doch angeblich noch in Ordnung gewesen sein soll, die Mädchen züchtig, die Buben tüchtig, die Familie und die Volksgemeinschaft intakt.

Das geht über die Kaiserzeit, die Zeit der napoleonischen Kriege, die Zeit der Aufklärung, das Barock, das späte, mittlere, frühe Mittelalter, das Gebrummel der Kirchenväter bis in die Antike. Schon Sallust jammerte um 50 vor Christus über den Hochmut der Jugend: „Ehrgefühl und Zucht, göttliches Gebot und menschliches Recht, alles war ihnen einerlei, sie kannten keine Rücksicht, keine Hemmung“. Man sieht, der Untergang des Abendlandes war schon nahe, ehe das Abendland „Guten Tag“ sagen konnte.

Ich weiß, dass mittlerweile selbst altgediente Schulrektoren solche und ähnliche Zitate anführen, um bei Festreden ihre Schülerinnen und Schüler (kurz: SuS) in Schutz zu nehmen und der Zuhörerschaft vor Augen zu führen, dass die Jugend sich schon in alter Zeit von alten Säcken Schlechtes nachsagen lassen musste. Was mich an Henschels süffisant zu lesender Zusammenstellung verblüfft hat, ist die Lückenlosigkeit seiner Belege über Jahrhunderte hinweg - und was mich dabei berührt hat, ist das dumpfe Gefühl als Polemiker irgendwie doch auch dieser Altherrenriege anzugehören.

Habe ich nicht an dieser Stelle Sprachschludereien, Handywahn, Geräuschentwicklungen im Kinosaal, neumodische Namensgebungen (Kevin u.a.), den Niedergang des Fernsehens, Piercing und andere Modetrends gegeißelt und damit ganz überwiegend meine jüngeren Mitmenschen im Visier gehabt´

Aber weder, sage ich mir, habe ich dabei das Phantom einer guten, alten Zeit beschworen, noch habe ich deshalb meine Altersklasse, die ich jetzt nicht näher definiere, aus dem Schussfeld genommen. Die selbsterlebte Vergangenheit habe ich zu gut in schlechter Erinnerung, um sie zu verklären, und meine Altersgenossen (inklusive ich selbst) sind mir zu vertraut, um ihnen allzu viel Gutes nachzusagen und glücklicherweise ist mir (hoffentlich) die sabbernde Redseligkeit fremd, mit der die altvorderen Zeitkritiker die vermeintlichen sexuellen Ausschweifungen und Verirrungen ihrer Zeitgenossen an die Wand malten, so fantasie- und detailreich, dass man das Gefühl hat, sie würden sich dabei verbal einen runterholen. Ein Phänomen, das einem übrigens Tag für Tag in der „Bild“-Zeitung begegnet. die sich und ihre Leser mit dem aufgeilt, was sie zugleich im Brustton der Empörung geißelt. Und dennoch bringt mich Henschels „Menetekel“ zum Nachdenken.

Ist es denn wirklich so schlimm, wenn die Jugend, mag sie Kevin oder Sabrina heißen, „Deutschland sucht den Superstar“ guckt, ins Handy quatscht bis zum Abwinken, im Kino mit der Gummibärchentüte raschelt, im Shoppen die größte Erfüllung findet und ihre Weltwahrnehmung in die Geschmacksrichtungen „cool“, „krass“ und „geil“ einsortiert. Wer einmal den Nazi-Durchhalte-Film „Kolberg“ gesehen hat, in dem die deutsche Jugend auf die Verachtung aller irdischen Güter und für den Kampf und den Tod fürs Vaterland eingeschworen wird, der sieht dem Treiben von hüftbehosten, gepiercten Jugendlichen, die in den Mediamärkten auf der Jagd nach dem geilsten I-Pod und dem coolsten Handy sind, mit freundlichem Lächeln zu. „Lass doch der Jugend ihren Lauf!“, säuselt der Best Ager, legt die neue Jimi Hendrix-CD auf und fügt, ehe der Gitarrengott den ersten Akkord anstimmt, hinzu: „Aber die Musik war damals besser“.