Klappeauf - Karlsruhe
Archiv: 07.2006
Verschiedenes Herbies Cartoon

 

Kein Platz für Platzkarten

Vielleicht haben Sie das selbst schon einmal erlebt: Das Kino ist nicht einmal zu einem Drittel gefüllt und dennoch drängen sich die Leutchen, die da sind, auf einem Fleck zusammen, meistens handelt es sich um die mittigen Plätze in den hinteren Reihen. Woher kommt diese „Rudelbildung“´ Was bringt die Leute zusammen´ Richtig - es handelt sich um Platzkarteninhaber - und zwar um solche, die tatsächlich da sitzen, wo sie sitzen sollen. Nie im Leben kämen sie auf die Idee, sich einen anderen Platz aussuchen, obwohl es noch genügend freie Plätze gibt, bei denen einem niemand im Nacken sitzt oder mit seinem Quadratschädel die Aussicht auf die Leinwand verdirbt.
Nein, ihr Wunsch, den sie beim Erwerb der Karte geäußert haben, ist ihnen auf einmal Befehl, die Karte entwickelt die Bindewirkung eines Mietvertrags. Wehe dem, der sich die Freiheit nimmt, sich woanders hinzusetzen. Als jemand, der grundsätzlich den Platz auswählt, der ihm bei dem Betreten des Kinosaals am verlockendsten erscheint, ungeachtet dessen, was auf der Karte steht, erlebe ich immer wieder dieses seltsam prickelnde Gefühl, wenn ein fanatischer Platzkarteninhaber, erkennbar an dem angestrengten Blick, der ständig hin- und her schweift zwischen der Karte und der Beschriftung auf den Stuhlreihen, sich mir unaufhaltsam nähert. Kann es tatsächlich sein, dass ausgerechnet ich ihm in dem fast menschenleeren Kino „seinen“ Platz weggenommen habe´
Und kaum geht der Knilch, äh Kelch, an mir vorüber, kommt schon der nächste Platzkarten-Fetischist, der wiederum keinen Blick hat für die Fülle des Platzangebots, sondern nur für die Buchstaben- Zahlenkombination auf seiner Eintrittskarte. Wobei allerdings in den halbvollen Kinos meine gewohnte Randlage, die mir Fluchtwege offenhält, eher wenig gefährdet ist, denn immer noch hält, sich allen technischen Weiterentwicklungen zum Trotz, hartnäckig das Gerücht, dass nur in den hinteren Reihen oben Mitte (siehe oben) der optimale Filmgenuss zu erleben ist. Ich behaupte nun nicht das Gegenteil; etwa, dass die Plätze ganz vorne oder am äußersten Rand das optimale Seh- und Hörerlebnis bieten, aber im Grunde genommen gibt es zwischen diesen Extremen in den heutigen Großraumkinos keine schlechten Plätze mehr.
Wie gut oder schlecht ein Platz, das definiert sich durch das lebendige Inventar bei Beginn der Vorstellung. Wer gerne eine Horde popcornfressende Teenie-Horde im Rücken hat oder einen Dauerschwafler an der Seite, der zum Geschehen auf der Leinwand seinen Senf gibt („boah ey, voll krass eins in die Fresse“), sei es nun, weil er die Klappe nicht halten kann oder um der jungen Dame an seiner Seite zu imponieren, bitte schön, der soll sich bitte in diese Gesellschaft begeben. Ich tue es nicht. Ich meide auch, wenn es geht, die notorischen Ablacher, die wild entschlossen sind ihre Lachquote zu erfüllen, selbst wenn es eigentlich gar nichts zu lachen gibt, und vor allem die Leute, die partout, wo sie gehen, stehen oder sitzen, ein Geräusch erzeugen, sei es nun mit dem Schlüsselbund, mit dem Kleingeld oder besonders beliebt im Kino mit dem für Softgetränke üblichem Kunststoffbehältnis nebst Trinkhalm, mit dem sich eine Art Minimal-Music erzeugen lässt, die mich in einen maximalen Erregungszustand, allerdings der unguten Art, versetzt.
Kurz und gut - meine Platzwahl wird wesentlich von Faktoren beeinflusst, mit denen ich mich erst beim Betreten des Kinosaals vertraut machen kann. Darum halte ich mich nicht an Platzkarten. Diese Weigerung hat ihre Nachteile. Wenn ich tatsächlich mal in eine fast ausverkaufte Vorstellung gerate, ist der frei gewählte Platz kaum zu halten und ich bin tatsächlich genötigt, jemanden von meinem „reservierten“ Platz zu scheuchen. Im ungünstigsten Fall kann das Beginn einer Kettenreaktion sein, die zu einiger Bewegung im Auditorium führt, zu einer La Ola-Welle mit missmutigen Beteiligten. Bei einem Kinobesuch mit einem Freund mussten wir uns nicht weniger als viermal versetzen und das nach Filmbeginn, „unsere Plätze“ (oben mittig) waren längst eingekesselt, sie noch für uns zu reklamieren, wäre eine anstrengende, die Saalruhe schwer beeinträchtigende Anstrengung gewesen. So versetzen wir uns immer um wenige Meter, in der bangen Erwartung weiterer zu spät kommender Platz-Hirsche. Nach diesem ganz besonderen Filmerlebnis, der dem Begriff Wanderkino eine neue Bedeutung verleiht, riet mir mein Freund, mich doch das nächste Mal an die Platzkarte zu halten.
Aber nein, das tue ich nicht, und zwar nicht aus Prinzipienreiterei: Sollte es sich tatsächlich ergeben, dass der mir nach der erschöpfenden Auskunft „Egal“(auf die Frage, wo ich sitzen wolle) vom Kassierer zugewiesene Platz nach meinen Gusto ist, dann nehme ich ihn auch ein. Aber im Grunde plädiere ich für die Abschaffung der Platzkarte. Sie hat fast keine Vorteile, sondern nur nach Nachteile, wozu übrigens auch die längeren Entscheidungsprozesse an der Kinokasse gehören („Welcher Platz wäre dir lieber, Schatz, D 27 oder G 17´“. „Hmm, ich weiß nicht so recht. Ist B 35 auch noch im Angebot´“). Zu rechtfertigen wäre sie eigentlich nur, wenn es noch wie früher Plätze geben würde, für die man mehr oder weniger bezahlt, aber die Zeiten, in denen es eine Wahl zwischen Sperrsitz und einem Platz auf der Galerie gab, sind längst vorbei. Soll doch einfach die Reihenfolge des Erscheinens über die Platzwahl entscheiden. Wer zu spät kommt, muss halt nehmen, was übrig bleibt.
Dass ich mit dieser Ansicht nicht allein stehe, zeigt die Mitteilung eines Tübinger Kinos: „Verehrte Kundschaft, auf vielfachen Wunsch und vielfache Kritik unserer Gäste haben wir uns entschlossen, die kürzlich eingeführten Platzkarten abzuschaffen und die freie Platzwahl wieder einzuführen“. Das ist nachahmenswert. Weg mit der Platzkarte.